Outtakes - das sind eigentlich nicht verwendete Szenen beim Film. Aber so was kann es auch bei Büchern geben.
Die folgenden zwei Szenen ereignen sich im ersten Band. Hier erzähle ich sie noch einmal aus Neves Perspektive, weil sie Ereignisse enthalten, die für Neve, der Protagonistin in Band 2, von Bedeutung sind.
Letztlich sind diese Szenen in der ausführlichen Form jedoch nicht in den zweiten Band gelangt, weil sie die Handlung am Anfang zu sehr verlangsamt hätten.
Achtung Spoiler!! Wer Himmelstiefe, den ersten Band, noch nicht gelesen hat, sollte sie nicht lesen, da sie bereits einiges über den Fortgang der Geschichte verraten.
Engel weinen doch nicht
Ich hockte im Gäste-WC der Wohnung, in der Kira bis vor kurzem mit ihren Eltern gewohnt hatte, und grübelte angestrengt darüber nach, wie ich sie am besten warnen konnte. Kira war oben in ihrem Zimmer, aber leider nicht allein. Ihre Mutter hatte sich zu ihr ins Bett gelegt. Die Mitglieder des Rates konnten jeden Moment hier auftauchen. Aber noch schlimmer war die Sache mit ihrem Vater.
Auf einmal hörte ich, wie Kira die Treppe aus ihrem Zimmer hinunterschlich. Erst dachte ich, sie würde in die Wohnstube abbiegen, vielleicht noch etwas zu trinken holen. Aber nein, ihre Schritte kamen näher. Augenscheinlich hatte sie vor, ihren Vater in seinem Arbeitszimmer aufzusuchen.
Schnell öffnete ich die Tür, bedeutete ihr, bloß keinen Ton von sich zu geben und zog sie in mein dunkles Versteck. „Hierher. Schnell! Geh nicht zu deinem Vater. Er hat dich verraten.“
Lautlos schloss ich die Tür wieder.
Kira sah mich mit großen Augen an, die in der Finsternis sofort zu leuchten begannen, und brachte zunächst keinen Ton heraus. Ich versuchte ihr in wenigen Worten zu erklären, was los war, und was ich wusste.
„Endlich bist du allein. Ich warte schon eine ganze Weile auf dich. Jerome muss jeden Moment hier sein. Dein Vater hat ihn alarmiert. Er scheint über alles Bescheid zu wissen. Ich habe ihn belauscht. Sie wollen dich mitnehmen, sobald deine Mutter aus dem Haus ist. Dein Vater will sie schonen. Der Rat vertraut Jerome. Sie haben ihn geschickt, um dich zu schnappen. Du musst hier weg! Wie konntest du nur herkommen? Du hättest auf Clarissa hören sollen. Warum tust du das alles? Warum hast du mir nicht gesagt, dass du lauter elementare Kräfte hast? Du hättest …“
Kira zog die Augenbrauen zusammen und versuchte, mir zu folgen. Sie schien zu verstehen, dass ich bereits von Clarissa wusste, und sah auf einmal ziemlich wütend aus.
„Heißt das, du folgst mir die ganze Zeit, ohne auch nur einen Mucks von dir zu geben? Wer sagt mir denn, dass DU nicht vom Rat geschickt wurdest?“
Jetzt war ich für einen Moment sprachlos. Wie konnte sie so was denken?
„Aber Kira, ich bin doch deine Freundin!“
„Eine feine Freundin, die behauptet, dass Tim mit Luisa zusammen ist und mir nicht sagt, dass Leo mich besucht hat und mir heimlich nachschleicht und mich belauscht …“, zischte Kira wütend und ich hatte Angst, dass sie laut werden würde.
„Du verstehst nicht, ich will dich nur beschützen. Das ist meine Aufgabe.“
Nein, Kira wollte tatsächlich nicht verstehen. Stattdessen brach eine unbändige Wut aus ihr heraus. Auf mich und auf alles.
„Beschützen! – Genau dieses Engelgetue, das geht mir völlig auf die Nerven! Du bist doch kein Engel über allem. Du bist ein Mensch wie ich, mit ein paar Fähigkeiten. Weiter nichts. Aber du, du spielst dich total auf! In deinen komischen Engelkostümen. Du lügst mich an, hältst Tim und Leo von mir fern, nur weil du dich selbst nicht verlieben kannst. Das ist es doch, was dahintersteckt! Wo wohnst du eigentlich? Wer sind deine Eltern? Sind sie dir peinlich oder was? Ich habe es satt, von allen Seiten immer nur belogen zu werden. Eine Lüge nach der anderen. Egal, wo man geht oder steht. Ich habe es einfach satt!“
Und dann passierte es. Ich hatte mich, während ihre Vorwürfe auf mich niederhagelten, ganz klein auf dem Klodeckel gemacht, als wollte ich zu einer Kugel werden und wegrollen. Unwillkürlich wischte ich mit meinem Handrücken über meine Wangen, erst die linke, dann die rechte. Es war eine tief unbewusste Geste. Und ich hatte sie benutzt, weil ... meine Wangen – sie waren nass! Nass von Tränen! Tränen, die zwar nicht warm waren, aber trotzdem Tränen? Wie konnte das sein? Ich spürte kein Kribbeln auf der Haut und kein Brennen in den Augen, so wie es sich normalerweise anfühlte, wenn man weinte. Trotzdem stieg Panik in mir auf. Ich dachte sofort an die Sache mit dem Eierkuchen. Erneut zeigte sich mein Körper unzuverlässig. Was passierte mit mir?
Die zwei Zahnputzgläser auf der Ablage klirrten gegeneinander. Ich wusste nicht, ob Kira das verursachte, weil sie so wirkte, als würde sie am liebsten explodieren, oder ob es von meiner mentalen Anstrengung kam, die Panik in mir niederzukämpfen. Wir saßen hier fest und mussten leise sein, verdammt!
Kira griff nach den Zahnbechern und stellte sie ein bisschen auseinander. Stattdessen fing plötzlich das Wasser an, alleine aus dem Hahn zu laufen. Sie drehte den Hahn so fest zu, wie es ging.
Dann hockte sie sich zu mir.
„Tut mir leid. Es ist ja nicht alles deine Schuld. Ich weiß doch, dass du es gut mit mir meinst. Ich weiß es doch. Aber …“
Ich wischte mir hastig zwei neue Tränen ab und rang um Fassung „Du hast recht. Du hast ja recht. Mit allem. Ich bin kein Engel. Schließlich weinen Engel nicht“, brachte ich unter leisem Schluchzen hervor.
„Es tut mir leid, was ich gesagt habe“, entschuldigte sich Kira
Trotzdem brachen jetzt die Antworten aus mir heraus.
„Ich habe keine Eltern mehr. Ich hatte eine Großmutter, aber sie ist tot. Und mein Vater auch. Und unser Haus …“
Immer neue Tränen liefen mir über die Wangen. Ich wollte nicht weinen. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass ich mich so fühlte wie früher, als ich noch ein Mensch war. Meine Stimme verweigerte den Dienst. Ich konnte nicht weitersprechen.
Kira umarmte mich und flüsterte: „Ich bin so ein Vollidiot.“
„Nein, bist du nicht.“
Ich wehrte mich gegen die Umarmung, obwohl sie gut tat und beschloss, auf das zurückzukommen, weswegen wir hier waren. Ich brauchte ein Thema, was mich ablenkte, und zwar sofort.
„Deine Mutter geht um neun zum Yoga. Bis dahin musst du weg sein.“
Kira lockerte ihre Umarmung ein wenig und sah mich mitleidig an. Ich erkannte, wie groß ihr schlechtes Gewissen war. Sie sollte aufhören damit. Also flüsterte ich hastig weiter:
„Ich habe Freunde am Wetterseeplatz 8. Ein altes Haus, seit hundert Jahren nicht mehr sarniert. Da bringe ich dich hin. Niemand wird dich dort vermuten.“
Kira schaute mich skeptisch an, als würde ich im Fieber fantasieren.
„Du hast Freunde hier?“
Worüber wunderte sie sich? Dass ich Freunde in der realen Welt besaß?
„Der Komponist wohnt dort und ...“ Weiter kam ich nicht, weil Kira mich unterbrach. Ihr Gesicht zeigte jetzt ein kleines wissendes Lächeln.
„Du hast dich verliebt. Ich seh’s dir an.“
„Quatsch, überhaupt nicht ...“, zischte ich und fühlte auf einmal Wut in mir aufsteigen. Warum war Kira schon wieder so provokant, während ich ihr doch nur helfen wollte? Naja, sie guckte ganz lieb. Aber ... Ich straffte mich, ignorierte ihre dämliche Vermutung und erzählte ihr, was ihr Vater und Jerome miteinander gesprochen hatten.
Kira kochte so hoch deswegen, dass die Zahnbecher erneut heftig gegeneinanderklirrten und einer zerbrach und herunterfiel. Ich konnte die Scherben im Flug auffangen. Es sah so aus, als würden sie tiefe Kerben in meine Hand schneiden, aber es kam kein Blut. Kira starrte fasziniert auf meine Hand. Und ich war einfach nur beruhigt. Keine Schnitte wie bei normalen Menschen. Kein Blut. Und das mit den Tränen hatte zum Glück auch wieder aufgehört.
Wo die Engel leben
„Kennst du jemanden von ihnen?“, fragte Kira mich, als wir durch die Gräber mit den Bäumchen und den kleinen Bücherkisten darin spazierten. Erst wich ich aus, aber dann gab ich mir einen Ruck und verriet ihr, dass meine Oma auf dem magischen Friedhof begraben lag.
„Deine Oma, sie ist hier?“
Kira staunte. Schließlich war meine Großmutter doch nur ein ganz normaler Mensch gewesen.
„Komm, ich zeig es dir“, antwortete ich und zog sie einige Pfade weiter zu der Grabstelle mit einem kleinen Bäumchen, dessen Stamm und Äste himmelblau waren und der das ganze Jahr über süße Sauerkirschen trug. Ich pflückte Kira ein Paar und wies auf die vielen Briefe, die ich an meine Oma geschrieben und in den Baum gehängt hatte. Und dann gestand ich ihr:
„Alle sagen, ich wäre nicht schuld an ihrem Tod. Aber, ich glaube es immer noch … Hätte ich … Ach, egal …“
Kira versicherte mir, dass ich nicht schuld war und dann sagte sie auf einmal:
„Weißt du, was ich mir wünsche? Dass es keine Geheimnisse mehr gibt, die so einen unangenehmen Abstand zwischen mir und den Menschen halten, die ich mag.“
Ihre Worte lösten meine Zunge und ich spürte den Drang, ihr zu erzählen, was ich schon so lange tief in meinem Innern verschloss.
„Immer, wenn ich nachts in das Zimmer meiner Omi kam, weil ich mich gruselte – wir wohnten in einem alten Forsthaus, mitten im Wald. Mein Vater war Förster gewesen, weißt du – dann fuhr sie erschrocken aus dem Schlaf hoch und sagte: ‚Kind, hast du mich erschreckt. Du bringst mich damit noch ins Grab!‘ Erst machte sie ein Gesicht, als sei sie vom Donner gerührt worden, aber kurz darauf lächelte sie, winkte mich heran und ich durfte mich in ihr warmes großes Bett kuscheln und bei ihr schlafen. Ich glaube, in Wirklichkeit hatte sie in der Nacht genau solche Angst wie ich. Besonders, seit wir allein in dem Haus lebten, weil mein Vater nicht mehr aus dem Wald zurückgekommen war.“
Wir hatten uns auf eine Bank gesetzt. Ich stockte kurz, aber dann versuchte ich, meiner Stimme ein bisschen mehr Volumen und Festigkeit zu geben.
„Meine Mutter starb, als ich ein Jahr alt war, und mein Vater war seitdem in völlige Sprachlosigkeit und Depression versunken. Ich kann mich kaum an seine Stimme erinnern.“
„Dann hat er fast nie mit dir gesprochen?“, fragte Kira ungläubig.
„Nein. So gut wie nie. Als ich acht wurde, kam er eines Tages nicht mehr zurück aus dem Wald. Man hat ihn gesucht aber nicht gefunden. Von da lebte ich allein mit meiner Großmutter in dem großen alten Forsthaus. Sie brachte mich jeden Tag runter ins Dorf zur Schule und holte mich auch wieder ab.“
„Hast du ihn sehr vermisst?“
„Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Irgendwie war das Leben mit meiner Oma allein jetzt fröhlicher - bis zu dieser schrecklichen Nacht.“ Ich machte eine kleine Pause. Kira wartete geduldig. Dann fuhr ich fort: „Ich war gerade fünfzehn geworden. In dieser Nacht stand ich, wie so oft, vor dem Bett meiner geliebten Oma, weil ich nicht einschlafen konnte. Doch diesmal fuhr sie nicht hoch wie sonst. Sie blieb einfach liegen und rührte sich nicht, als ich die Tür zu ihrem Zimmer mit lautem Knarren öffnete. Sie wachte nicht mehr auf, weil sie im Schlaf gestorben war. Ich war mir sicher, dass der einzige Mensch, den ich hatte, sich diesmal wirklich zu Tode erschreckt hatte.“
„Nein, das kann natürlich nicht sein“, sagte Kira.
„Wie auch immer“, fuhr ich fort. „In diesem Moment legte sich bei mir jedenfalls ein Schalter um. Ich war nicht fähig, die Realität an mich heranzulassen. Stattdessen ergriff mich eine fixe Idee und nahm mein ganzes Denken ein. Ich flüchtete aus dem Haus, rannte in den baufälligen Schuppen, schnappte mir mein Fahrrad und raste in den Wald hinein. Die düstere Nacht war mir auf einmal egal. Ich verspürte keinerlei Angst. Ich musste meine Oma einholen, die sich auf den Weg in den Himmel befand. Ich trug nur ihr Nachthemd. Es verfing sich in den Pedalen. Ich fiel einige Male hin, riss immer wieder Fetzen des Stoffes aus der Fahrradkette und fuhr die ganze Nacht. Ich wusste nicht, wohin. Ich hatte nur ein Bild vor Augen, einen Ort, der hoch genug war, um von ihm zu springen und in den Himmel zu fliegen.
Das Bild war stark und mächtig und verdrängte jeden vernünftigen Gedanken. Ich irrte durch den Wald. Waren es Tage oder Wochen? Ich wusste nicht, wie lange. Ich spürte keine Kälte, keinen Hunger, keinen Durst. Ich brauchte nichts. Ich war mir sicher, dass ich dabei war, ein Engel zu werden. Meine Großmutter hatte das immer gesagt. Und jetzt wollte ich zu ihr. Ich würde sie finden.
Irgendwann stellte ich fest, dass ich im Kreis herumgeirrt war und fand mich vor dem alten Forsthaus wieder. Eine Frau aus dem Dorf trat gerade aus der offenen Eingangstür und stieß einen Schrei des Erstaunens aus, als ich plötzlich vor ihr stand, zerzaust, verdreckt, zerrissen, aber lebendig.
Ich erfuhr, dass man meine Oma in eine Urne getan hatte und sie begraben wollte, sobald es keine Hoffnung mehr gab, dass ich wieder auftauchte. Ich drängte die Frau, mir die Urne zu zeigen. Sie stand im seit vielen Jahren nicht mehr genutzten und verstaubten Arbeitszimmer von meinem Vater auf dem Schreibtisch. Während die Frau aus dem Dorf die Polizei anrief, schnappte ich mir die Urne und floh abermals. Ich musste endlich den Ort finden, den ich so verzweifelt suchte.“
„Den magischen Durchgang“, ergänzte Kira.
„Ja. In meiner Vorstellung tauchte immer eine weiße Plattform aus Beton auf, die ganz von Himmel umgeben war, oben, an den Seiten und unten. Ich wusste nicht mehr, wie ich das Hochhaus gefunden hatte. Es befand sich mitten in Berlin, der riesigen und mir völlig unbekannten Hauptstadt. Die Erinnerung an den Weg dorthin war komplett gelöscht. Hatten meine Gedanken mich hingetragen oder war ich geflogen? Alles scheint möglich. Ich wusste nur noch, wie ich mit einem Fahrstuhl viele Etagen hinauffuhr, durch eine Eisentür auf das Dach stieg, die Plattform aus meiner Fantasie wiedererkannte und ohne zu zögern in die Tiefe sprang.“
Kira saß regungslos neben mir und hörte mir zu.
„Das Seltsame war, ich sah gar keine Straße unter mir. Ich sah blauen Himmel, obwohl es Nacht war. Blauen Himmel und weiße Schäfchenwolken. Und ich wusste, da muss ich hin. Dort ist es. Dort leben die Engel.“
Kira legte tröstend ihre Hand auf meinen Arm.
„So bin ich hierhergekommen. Es war Kim, die mich am Ätherdurchgang gefunden hatte. Sie machte mir gleich klar, dass ich bloß nicht glauben sollte, im Himmel zu sein, wo verstorbene Angehörige herumlungern. Naja, du kennst sie. Mit der Wahrheit ist sie schonungslos. Es war ein Schock. Alles war ein Schock. So wie für dich. Aber sie hat es wieder gutgemacht. Sie war es, die dafür gesorgt hat, dass meine Oma auf diesem Friedhof begraben wird. Meine Oma sagte immer zu mir, ich wär ein Engel. Schade, dass sie nie erfahren hat, dass das stimmte.“